Monika Dunkel und Thomas Steinmann – 04 May 2020 – Read the full article here (German only)
Auf einer Geberkonferenz wollen Regierungen, Pharmafirmen und Stiftungen Geld für die Entwicklung eines Corona-Impfstoffs eintreiben. Die Suche nach einem Mittel gegen das Virus ist in vollem Gange, auch Firmen wie Atriva Therapeutics hoffen auf den Durchbruch
Der Wettlauf gegen die Zeit beginnt Ende Februar in einem Hochsicherheitslabor in Münster. Der Karneval liegt erst ein paar Tage zurück, das Robert-Koch-Institut meldet 30 Corona-Infizierte bundesweit. Die Katastrophe scheint noch weit entfernt. Am Institut für Molekulare Virologie der Uni Münster nimmt Stephan Ludwig an jenem Tag einen verplombten Plastikcontainer entgegen. Darin: Röhrchen voller Rachenabstriche, unter anderem von Patienten aus dem niederrheinischen Heinsberg, die sich auf einer Karnevalsparty angesteckt haben. Ein paar Abstriche kommen auch aus Ischgl, dem österreichischen Skiort, in dem sich das Virus besonders schnell verbreitete.
Wertvolles Material für den Münsteraner Chefvirologen Ludwig: Er braucht die Viren, um herauszufinden, ob ein Wirkstoff der Tübinger Biotechfirma Atriva Therapeutics gegen Corona helfen kann. Der Code name des Mittels: ATR-002. Wie die Bezeichnung verrät, ist es das zweite Medikament des viereinhalb Jahre alten Unternehmens, zu dessen Mitgründern Ludwig zählt. ATR-002 ist eigentlich ein Grippemittel, aber der Virologe hofft, dass das Präparat dazu beitragen kann, die Corona-Pandemie einzudämmen. „Unsere Technologie hilft gegen verschiedenste Viren“, sagt Ludwig. „Sie hemmt ihre Vermehrung in der Zelle. Wir haben hier eine Allzweckwaffe in der Hand.“ Überall auf der Welt suchen Wissenschaft und Industrie unter Hochdruck nach Heilmitteln. Regierungen umgarnen Wissenschaftler und winken mit Milliarden, um Zugriff auf vielversprechende Firmen und Forschungsprojekte zu bekommen.
Es läuft ein globales Wettrüsten, um Waffen gegen das Virus zu entwickeln: sowohl Medikamente zur Linderung der von Covid-19 ausgelösten Krankheitssymptome als auch Impfstoffe gegen das Virus selbst, die es nach Einschätzung von Experten aber wohl erst 2021 geben wird. 260 klinische Studien zur Lungenkrankheit Covid-19 listete Anfang April das Portal clinicaltrials.gov weltweit, täglich kommen neue hinzu. Das Spektrum reicht von chinesischer Medizin über Präparate gegen Grippe, Malaria oder Aids bis zu gänzlich neuen Wirkstoffen. Alles, was irgendwie Erfolg versprechen könnte, wird getestet.
Hoffnungsträger Curevac
Dabei ruhen die größten Hoffnungen auf kleinen Unternehmen wie Atriva Therapeutics, wo es gerade einmal 15 Mitarbeiter gibt. Oder dem ebenfalls in Tübingen angesiedelten Unternehmen Curevac, dessen Corona-Forschungen das Interesse von US-Präsident Donald Trump weckten. Während die internationalen Pharmariesen die Biotechnologie aus Angst vor hohen Kosten und noch höheren Risiken sträflich vernachlässigt haben, könnte nun die Stunde der jungen Biotechfirmen schlagen: Unternehmen, die seit Jahren an neuen Technologien forschen, über Wasser gehalten von ein paar wenigen Finanziers mit langem Atem wie dem SAP-Mitgründer Dietmar Hopp oder den Hexal-Gründern Thomas und Andreas Strüngmann.
Im Labor in Münster beginnt Stephan Ludwig am 9. März damit, die RNA der Rachenabstriche zu isolieren. Eine Maschine prüft dann, ob der Abstrich das Erbgut des Coronavirus trägt. „Wir müssen sicher sein, dass wir das richtige Virus erwischt haben“, erklärt Ludwig. Im nächsten Schritt züchten die Wissenschaftler einen Virenstamm. Als Nährboden bewährt haben sich die Nierenzellen der Grünen Meerkatze, einer Affenart, der ein Abwehrmechanismus fehlt, was Viren prächtig gedeihen lässt. Unter dem Mikroskop können Ludwig und seine Kollegen beobachten, wie das gezüchtete Virus Löcher in den Nährboden frisst.
Codename ATR-002
Zeitgleich mit den Tests in Münster laufen auch in Tübingen und Gießen Laborversuche mit ATR-002 an. Dort arbeiten der Immunologe und Virusforscher Oliver Planz und der Virologe Stephan Pleschka. Alle drei Wissenschaftler, Koryphäen ihres Fachs, haben das Start-up Atriva 2015 als Spin-off der Uni Tübingen mitgegründet. An ihrem Wirkstoff
ATR-002 arbeiten sie schon länger. Nachweisen konnten sie im Labor bereits, dass das Mittel die Vermehrung normaler Grippeviren hemmt. Getestet haben sie es bisher nur an gesunden Patienten: Es ist gut verträglich und ohne Nebenwirkungen.
Auch deshalb sehen Experten Atriva als einen Hoffnungsträger unter den vielen Corona-Forschungsinitiativen. Beim Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) heißt es, die Atriva-Studien zählten „zu den wenigen vielversprechenden Ansätzen aus Deutschland“. Auch internationale Spezialisten sind auf die kaum bekannte Tübinger Firma aufmerksam geworden, etwa die Stiftung von Microsoft-Gründer Bill Gates, die bereits knapp 50 Mio. Euro in den benachbarten Impfstoffhersteller Curevac investiert hat.
Unterfinanzierte Branche
Wie hart der Weg bis zu diesem Punkt war, kann Rainer Lichtenberger erzählen, der Atriva-CEO. Der gelernte Industrieapotheker mit Business-MBA arbeitet seit 30 Jahren in der Pharmabranche und gründet seit 15 Jahren selbst Biotechfirmen – ein „Serientäter“, wie er sagt. Der Atriva-Chef, selbst mit rund sieben Prozent beteiligt, gehört zur sehr überschaubaren Gruppe von Biotech-Investoren, die in diesem Geschäft trotz geringer Renditen und hoher Risiken durchhalten. Zu Lichtenbergers Daueraufgaben gehört es, frisches Kapital aufzutreiben. Seit der Gründung haben sie 9 Mio. Euro eingesammelt. Die Forschung an Wirkstoffen verschlingt viel Geld, doch solange ein Unternehmen seine Mittel nicht auf den Markt bringen kann, setzt es praktisch nichts um.
Beim Bund hat Atriva mehrfach Forschungsanträge gestellt, um an Fördermittel zu kommen – ein umständlicher Formularkrieg, bei dem kaum etwas online laufe, berichtet Lichtenberger. Trotzdem sind sie fast immer abgeblitzt. Den Biotechfirmen in Deutschland fehle es an staatlicher Unterstützung und am Interesse der Pharmabranche, bestätigt Regina Hodits, Managing Partner bei Wellington, einem der wenigen deutschen Life-Science-Fonds mit 400 Mio. Euro Investitionsvolumen.
In der Vergangenheit seien viele kleine Biotechfirmen aus Kapitalmangel auf der Strecke geblieben. „Wer ein Medikament zur Zulassung bringen will, muss ziemlich schnell große und teure Studien stemmen können“, sagt Hodits. Nun aber komme vieles in Bewegung. Wegen Corona gebe es mehr Patienten, mehr Geld und die Einsicht, dass Europa die Entwicklung von Impf- und Wirkstoffen vernachlässigt hat. „Die Corona-Pandemie könnte einigen Biotechunternehmen zum Durchbruch verhelfen.“ Bislang aber wackelt die Finanzierung selbst bei bereits verfügbaren Medikamenten, von denen Experten hoffen, dass sie gegen Covid-19 helfen könnten.
Drei Millionen Influenza-Tote jährlich in China
Die Weltgesundheitsorganisation WHO startete kürzlich die globale Covid-19-Studie „Solidarity Trial“, die vier solche Medikamente prüft, darunter das Ebola-Präparat Remdesivir des US-Konzerns Gilead und das Malaria-Medikament Chloroquin des Pharmariesen Bayer. Doch um die Versuche zu finanzieren, musste die WHO Privatleute, Unternehmen und Regierungen zu Spenden aufrufen. Gemessen an den Milliardenpaketen, mit denen Regierungen weltweit Unternehmen retten, sind die Investitionen in die Forschung immer noch überschaubar. Als sich das Coronavirus im Januar von China aus in die Welt ausbreitete, initiierte Atriva ein Forschungsprogramm, erzählt Lichtenberger. Schon zu Beginn der Epidemie ließen chinesische Krankenhäuser in Tübingen anfragen, ob der Atriva-Wirkstoff auch gegen Corona helfe. Mit den Chinesen steht Lichtenberger schon seit 2019 in engem Kontakt.
Weil in China jährlich mehr als drei Millionen Menschen an Influenza sterben, war ursprünglich geplant, das neue Grippemittel ATR002 durch ein mehrjähriges Forschungsprojekt zu verfeinern. Die Chinesen hätten das gerne selbst getan, doch Lichtenberger bestand darauf, die Versuche in den eigenen Laboren durchzuführen – nicht zuletzt aus Angst, den Wirkstoff im Erfolgsfall an die Chinesen zu verlieren. Seit weltweit Alarm herrscht, geht vieles in der Heimat leichter. Ende Februar stellten Lichtenbergers Hauptinvestoren – der deutsche Hightech-Gründerfonds und eine holländische Gruppe – eine Kapitalerhöhung von 10 Mio. Euro in Aussicht.
Die Spritze hilft, aber sie wird bei Weitem nicht reichen, wenn der Wirkstoff anschlägt und eine Studie mit Infizierten durchgeführt werden muss. Ganz zu schweigen von den Investitionen, die es zum Aufbau einer Tablettenproduktion bräuchte. Immerhin gibt es Bewegung bei den strengen Regularien für neue Wirkstoffe. Genehmigungen für Studien werden nun binnen wenigen Tagen erteilt – das gab es noch nie.
Zeitplan ohne Netz und doppelten Boden
„Es ist unglaublich, wie schnell jetzt alles geht“, sagt Lichtenberger. Die Berliner Charité will den Atriva-Wirkstoff ATR-002 in eine ihrer Corona-Studien aufnehmen. Falls die Versuche der Tübinger Erfolg zeigen, soll es zügig weitergehen. 5000 Tabletten des Wirkstoffs lässt Atriva deshalb gerade in Darmstadt herstellen. Noch vor Ostern hoffen sie, „belastbare Ergebnisse“ zu haben. Eigentlich wollten sie schon Ende März so weit sein, doch die dritte Woche im Labor lief nicht glatt. Der Erreger wuchs auf bestimmten Zellen nicht, sie mussten die Anzucht- und Infektionsbedingungen optimieren. Ludwig trägt es mit der Fassung des Wissenschaftlers, der Rückschläge gewohnt ist. „Es war ein Zeitplan ohne Netz und doppelten Boden für den Fall, dass alles hundertprozentig klappt.“
Am 30. März starten sie in allen drei Laboren die eigentlichen Tests. Dafür teilen sie infizierte Lungenzellen in zwei Gruppen. Auf die eine träufeln sie den Wirkstoff, auf die andere nicht. Im Labor in Münster arbeiten Ludwig und seine Mitarbeiter nun rund um die Uhr. Im Abstand von 12, 24, 48 und 96 Stunden zählen sie, wie stark sich die Viren vermehren. Nur wenn ihr Medikament sie zu über 90 Prozent eindämmt, ist es erfolgreich, erklärt Ludwig. Andernfalls würde es das Virus nur ein paar Stunden aufhalten können. Ludwig hat inzwischen eine Ausnahmegenehmigung der Behörden bekommen: Selbst wenn es in der Firma einen Corona-Fall geben sollte, dürften sie weiterarbeiten – auch wenn ringsum Labore und Institute schließen. „Es wäre ja bizarr, wenn sie uns zumachen, während wir an einem Mittel gegen Corona arbeiten“, sagt Ludwig. „Wir sind systemrelevant.“