08.01.2021 – Read the full article here (German only)
BioRegio STERN-Interview mit Dr. Rainer Lichtenberger, Mitbegründer und CEO der Atriva Therapeutics GmbH, die soeben die Genehmigung für eine Phase II-Studie an COVID-19-Patienten bekannt gab. Unter Leitung der Charité Berlin wird in Deutschland und international an 220 Patienten die Wirksamkeit, Sicherheit und Pharmakokinetik von ATR-002 getestet. Mit dem Medikament des in Tübingen gegründeten biopharmazeutischen Unternehmens sollen Patienten bei mittelschweren und schweren Verläufen einer COVID-19-Erkrankung behandelt werden.
Die Atriva Therapeutics GmbH arbeitete an einem Wirkstoff, der Grippe-Viren hemmen soll. Wie kam es zu der Entscheidung, auf dieser Grundlage ein COVID-19-Medikament zu entwickeln?
Es war naheliegend, auf der Basis unserer Kenntnisse, die wir in Bezug auf Grippe-Viren hatten, auszuprobieren, ob unser genereller Wirkansatz auch bei COVID-19 Erfolg haben könnte. Das liegt am speziellen und einzigartigen Wirkmechanismus von ATR-002, der die Strukturen in der Wirtszelle angreift, die wichtig sind für die Vermehrung dieser ganzen Familie von Viren, den sogenannten RNA-Viren. Zu diesen gehört das Grippe-Virus ebenso wie die SARS-Viren, die COVID-19 verursachen. Unser Medikament wirkt zum einen nachweislich anti-viral, indem es dem Virus die Vermehrung verunmöglicht, weil die zelluläre Apparatur nicht bereitgestellt wird. Zum anderen, und das ist das Einzigartige, beeinflusst es das Immunsystem, so dass es nicht zu der gefürchteten überschießenden Immunreaktion kommt. Die stark erhöhte Zytokin-Ausschüttung kann bei Patienten mit COVID noch mehr als bei der Grippe tödlich verlaufen.
Wann haben Sie von dem neuartigen Virus erfahren und wann haben Sie mit der Entwicklung eines Medikamentes zur Behandlung von COVID-19 begonnen?
Der wichtigste Markt der Welt für anti-virale Medikamente ist, neben den USA, China. Wir hatten bereits intensive Kontakte zu wissenschaftlichen chinesischen Partnern und Firmen wegen unseres Grippe-Medikamentes. Daher haben wir bereits im Januar von der Schwere der Ausbrüche in Wuhan erfahren. Wir konnten dann im Februar in unseren Laboren mit den Tests beginnen und nach acht Wochen waren wir sicher: Ja, ATR-002 wirkt auch gegen SARS-CoV-2. Schon ab Mitte März bereiteten wir die klinische Studie vor und nahmen Kontakt zu Prof. Martin Witzenrath von der Charité auf, der größten infektiologischen und pulmologischen Klinik in Europa.
Hatten Sie besondere Unterstützung, um die Entwicklung eines COVID-19-Medikamentes zu beschleunigen?
Die öffentliche Förderung hat sich natürlich zunächst auf die Impfstoffforschung fokussiert. Die Wahrnehmung ändert sich jetzt dahingehend, dass auch Therapeutika unterstützt werden, um die extreme Sterblichkeit in den Kliniken abzupuffern. Die hat keiner erwartet, selbst unsere Befürchtungen sind übertroffen worden. Dass wir bis zu 1.000 Tote am Tag haben würden, hätte noch vor zwei Monaten kaum jemand für möglich gehalten. Die pandemische Entwicklung konnte so niemand vorhersehen. Das Risiko Fehler zu machen, ist gigantisch. Nach wie vor hat Deutschland es besser geschafft als viele andere, aber wir dürfen es jetzt nicht verspielen. Wir brauchen drei Säulen: erstens Kontaktminimierung und persönlicher Schutz, die zweite und wichtigste Säule ist der Impfstoff und die dritte Säule ist der therapeutische Ansatz, der die schweren Krankheitsverläufe minimieren kann, damit unser Gesundheitssystem beherrschbar bleibt. Das ist jetzt im Gesundheitsministerium angekommen. Wir erhalten unter anderem ein Darlehen der Europäischen Investitionsbank (EIB), die Atriva mit bis zu 24 Millionen Euro bei der Entwicklung unseres Medikaments gegen Covid-19 unterstützt.
Wann können Patienten mit ATR-002 regulär behandelt werden?
Seit der Veröffentlichung unserer Meldung, dass die Phase II-Studie beginnt, rufen bei uns Angehörige und Patienten an, um sich behandeln zu lassen. Wir müssen sie leider noch vertrösten, aber wir kämpfen dafür, dass das Medikament noch in diesem Jahr den Patienten zur Verfügung steht. Die ersten ausgewählten Patienten in der Charité sollen das Arzneimittel im Rahmen der Studie noch im Januar erhalten, sobald wir den Zulassungsstempel haben. Wir rechnen pro Woche mit etwa 30 Patienten. Die Krankenhäuser haben schließlich momentan alles andere zu tun, als sich um klinische Studien zu kümmern. Aber Prof. Witzenrath hat trotzdem speziell für diese Studie einen Arzt und eine Study Nurse abgestellt. Wir schätzen, dass wir spätestens bis zum Ende des 2. Quartals 2021 die notwendigen 220 Patienten behandelt haben. Anschließend müssen wir 90 Tage lang nachbeobachten. In dieser Zeit sehen wir: Hat es gewirkt oder nicht?
Unser Medikament ist jetzt in der Erstanwendung am Kranken. Normalerweise müssen 1.000 Patientenjahre an Sicherheit erbracht werden, das ist jedoch in einer solchen Notfallsituation schwieriger zu fordern. Trotzdem muss man in der Risiko-Nutzen-Relation vollständig überzeugen, und es müssen alle Fragen der zuständigen Behörden beantwortet werden.
Welche Bedeutung hat die Entwicklung hochwirksamer antiviraler Therapien für die weltweite pandemische Situation?
Fachleute nehmen an, dass wir vor allem auf der Südhalbkugel noch eine dritte Welle bekommen werden, wenn es dort wieder kalt wird. Und wir werden die Durchimpfung der Bevölkerung nicht so schnell hinkriegen, wie es wünschenswert wäre. Wenn sich etwa diese höher-infektiöse Virusmutation aus England durchsetzt, werden uns 60 Prozent Immunisierung in der Bevölkerung nicht ausreichen, da müssen wir 90 Prozent erreichen. Und das mit der hiesigen Impfskepsis…
Außerdem kommen laufend weitere Gefahren auf uns zu: tropische Erkrankungen, Dengue-Fieber, Hanta-Virus. Je mehr sich das Klima erwärmt, desto mehr werden wir auch hier in Europa mit solchen Erkrankungen rechnen müssen. Dafür benötigen wir so schnell wie möglich hochwirksame antivirale Therapien.
Erleben Sie und die ganze Biotechbranche nicht gerade außergewöhnlich anstrengende und arbeitsreiche Zeiten?
Ja, es ist eine arbeitsreiche Zeit, aber ich bin ebenso hochmotiviert wie alle meine Kollegen. Wir alle sind vom Wunsch beseelt, etwas zur Bekämpfung der Corona Pandemie beizutragen. Und die ganze Biotech-Branche zeigt, was sie kann. Der Vergleich zwischen dem Schnellboot Biotechnologie und dem Supertanker Pharmaindustrie beweist: Was aus unserer Branche kommt, ist aktuell der Schwerpunkt der Hoffnung. Forschung und Arbeit in der Biotechnologie werden endlich wahrgenommen und gewürdigt, das ist schon ein echter Paradigmenwechsel. Die Bevölkerung erkennt, dass unser Heil nicht in SUVs mit Benzinmotoren liegt, sondern in smarten Technologien, die die Welt besser machen. Das gilt für den Gesundheitssektor und den Umweltschutz. Deutschland hat seine wissenschaftliche Weltgeltung endlich wieder einmal überzeugend gezeigt. Das gilt für die Impfstoffentwicklung, aber auch für die Therapie: Vier der sechs wichtigsten Ansätze kommen von deutschen Unternehmen oder von Firmen mit deutschem Ursprung. Was uns noch fehlt, ist, die Chancen so zu nutzen und uns weiterzuentwickeln, dass daraus eine Life-Sciences-Industrie werden kann, die ebenfalls Weltgeltung hat. Der Weckruf ist angekommen und ich hoffe, dass man nicht wieder schläfrig wird.
Wie wird sich die Atriva Therapeutics GmbH weiterentwickeln?
Wir haben aktuell zwei Standorte: Tübingen und Frankfurt am Main. Für die internationale Zusammenarbeit benötigt man die schnellen Verbindungen am klinischen Standort in Frankfurt. Aber auch der Laborbereich in Tübingen soll weiter ausgebaut werden. Die Finanzierung ist derzeit gesichert über das Darlehen der EIB. Wir sind also finanziert, um diese Phase II-Studie voll durchzuführen.
Der Wirkstoffkandidat ATR-002 ist das am weitesten fortgeschrittene Produkt von Atriva. Können Sie schon weitere Kandidaten in der Pipeline ankündigen?
Die weiteren Wirkstoffkandidaten, an denen wir arbeiten, sind zunächst zusätzliche Indikationen für den ersten Kandidaten: tropische Viren, Hanta-Virus. Wir haben mittlerweile mit acht verschiedenen Viren getestet, auch verschiedene Vogelgrippe-Stämme waren dabei. Wir konnten feststellen, dass unser Wirkmechanismus so breit aufgestellt ist, dass er in allen Fällen wirksam ist. Somit sind wir auch für die sogenannte „Pandemic awareness“, die unser Gesundheitssystem auf neue, unbekannte Viren vorbereiten soll, perfekt aufgestellt. Mittelfristig ist der breitere Aufbau einer Wirkstoff-Plattform in der Planung.