Kurt-Martin Mayer – 13 Feb 2021 – Read the full article here (German only)
Im Schatten der Impfstoff-Erfolge bemühen sich mehrere deutsche Pharmafirmen um wirksame Medikamente. Derzeit sind 218 im Rennen – ein Durchbruch zeichnet sich aber noch nicht ab. Es fehlt an Geld.
Die Substanz heißt Aplidium. In der Natur kann man sie aus Seescheiden gewinnen, bunten, bizarren, moosartigen Tieren, die auf dem Meeresgrund leben. Wie für viele andere Naturstoffe begannen sich Forscher eines Tages auch für diesen zu interessieren und bauten ihn nach. Nach jahrelanger Entwicklungsarbeit wurde aus Aplidium Aplidin, ein letztlich mäßig erfolgreicher Wirkstoff gegen bestimmte Krebsarten.
Seit wenigen Tagen lädt Aplidin zum Träumen ein, wenigstens an der Madrider Börse. Dort schoss der Kurs des Herstellers Pharma Mar um ein Viertel in die Höhe. In dem führenden Wissenschaftsjournal „Science“ war eine Laborstudie erschienen, die den Effekt von Aplidin auf das pandemische Coronavirus prüfte. Aplidin wirke 27,5-mal stärker als Remdesivir, eines der wenigen halbwegs etablierten Medikamente gegen die Covid-19-Krankheit, berichtete das Team um den New Yorker Mikrobiologen Adolfo García-Sastre.
Dass die Medizinforschung binnen Jahresfrist mehrere Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 entwickelt und auf den Markt gebracht hat, feiern auch leidenschaftslose Experten als Errungenschaft. Zur Therapie wenden die Ärzte kunstvoll mehrere Formen der „Lungenunterstützung“ an. Mit Sauerstoff retten sie viele Patienten. Wirklich neue Medikamente konnten sich hingegen noch nicht durchsetzen. Das zuvor an Ebolaviren gescheiterte Remdesivir „wirkt zwar, jedoch nicht besonders gut“, sagt der Immunologe Georg Schett von der Universitätsklinik Erlangen.
„Insgesamt stehen uns wenige Medikamente zur Verfügung, die wir auch nur in ausgewählten Fällen anwenden“, ergänzt der Covid-19-Experte Martin Witzenrath von der Charité in Berlin. Vor diesem Hintergrund erregt ein Forschungserfolg wie jener mit Aplidin Aufsehen, selbst wenn er sich bislang auf Versuche im Reagenzglas beschränkt.
Viren entziehen sich pharmazeutischen Attacken
Zwar laufen weltweit Hunderte Therapiestudien, doch bei Patienten wirkte noch keine Testarznei so spektakulär, wie es der Stoff vom Meeresgrund verspricht. Nun schlagen sich Infektiologen schon lange mit dem Problem herum, dass sich Viren pharmazeutischen Attacken besonders hartnäckig entziehen, wenige ausgenommen wie der Erreger der Leberentzündung Hepatitis C. Im Fall von Covid-19 kommt erschwerend hinzu, dass die Reaktion des Immunsystems manchmal erst zwei Wochen nach der Infektion heftig wird, ein Organversagen auslöst und den Patienten unter Umständen tötet.
Dagegen kämpfen die Ärzte häufig mit entzündungshemmenden Kortisonpräparaten an, meist mit einem alten Wirkstoff namens Dexamethason. Aber sie müssen den richtigen Zeitpunkt erwischen. „Wir verabreichen Dexamethason erst, wenn der Patient zusätzlichen Sauerstoff benötigt“, sagt Witzenrath.
Der Charité-Arzt beteiligt sich selbst an Studien, um den Mangel an Covid-19-Medikamenten zu beheben. Eine Biotech-Firma, mit der er zusammenarbeitet, ist die Tübinger Atriva Therapeutics. Ihr Wirkstoff ATR-002 hemmt in menschlichen Zellen einen Faktor, den das Virus zur Vervielfältigung benötigt.
Die Therapie soll sich aber nicht nur gegen die virale Replikation richten, sondern auch gegen die überschießende Immunantwort. ATR-002 verspricht also doppelten Nutzen. Soeben hat die zuständige Behörde, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn, eine Phase-II-Studie mit dem Stoff genehmigt. 220 Corona-Kranke sollen es erhalten – beziehungsweise, wie in Studien üblich, ein Placebo.
218 Projekte zur Entwicklung neuer Medikamente
Eine Zweifach-Wirkung reklamiert auch die Immunic AG aus Gräfelfing bei München für ihr Produkt mit dem Kürzel IMU-838. Der ursprünglich gegen Multiple Sklerose und das entzündliche Darmleiden Morbus Crohn entwickelte Wirkstoff soll ebenfalls menschliche Körperzellen vor dem Virus schützen und das Immunsystem beruhigen. Er wird zurzeit an rund 200 Patienten erprobt.
Langfristig und eher inoffiziell planen die Entwickler sogar, IMU-838 beinahe wie einen Impfstoff zu vermarkten. Wer die Tablette innerhalb der ersten zwei Tage nach einer Infektion einnimmt, wird erst gar nicht erkranken, so die Hoffnung. Damit könnte das Immunic-Produkt bei Covid-19 eine ähnliche Rolle spielen wie die Medikamente Relenza und Tamiflu bei der saisonalen Grippe.
In einer frühen Phase von Covid-19, in der viele Patienten heute Remdesivir erhalten, verspricht ein Wirkstoff des Wuppertaler Unternehmens AiCuris zu helfen. Die vom Bayer-Konzern abgespaltene Firma hat mit dem deutschen Impfstoff-Senkrechtstarter Biontech gemeinsam, dass die Zwillingsbrüder und „Hexal“-Gründer Thomas und Andreas Strüngmann zu ihren Investoren zählen.
Spät im Krankheitsverlauf setzt hingegen die Entwicklung des Jenaer Unternehmens Inflarx an. Das Präparat könnte eine Art Retter in höchster Not werden. Es handelt sich um einen künstlich hergestellten Antikörper, also ein Präparat jenes Typs, von dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn 200 000 Dosen auf dem internationalen Markt eingekauft hat. Antikörper greifen in das Immunsystem ein. Jener von Inflarx namens Vilobelimab blockiert das Enzym C5a, das im menschlichen Körper zahlreiche Entzündungsprozesse verstärkt.
Viele Kandidaten, wenig Kapital
Insgesamt 218 laufende Projekte zur Entwicklung neuer Covid-19-Medikamente listet die kalifornische Innovations-Denkfabrik Milken Institute auf. Die meisten versuchen, auf das menschliche Abwehrsystem einzuwirken, mit Antikörpern oder Substanzen, die auf spezifische Immunzellen zielen. In manchen Fällen probieren die Entwickler ein bereits für andere Zwecke zugelassenes Mittel gegen die neue Krankheit aus, wie es bei Aplidin der Fall ist.
Je nach Definition gelten rund 35 der 218 Stoffe als in Deutschland erdacht. Kein schlechter Anteil, aber finanziell fühlen sich viele der eher mittelständischen Biotech-Firmen benachteiligt.
Die beiden ersten Phasen von Arzneimitteltests scheinen mit zweistelligen Millionen-Dollar-Beträgen hierzulande zu stemmen zu sein. Die entscheidenden Phase-III-Studien mit Tausenden Patienten und das „Hochfahren“ der Produktion kosten über 100 Millionen Dollar. „Das können wir aus eigener Kraft nicht aufbringen“, sagt Atriva-Chef Rainer Lichtenberger. „Neidvoll“ blicke er in die USA und die dortige staatliche Forschungsförderung.
Der deutsche Staat müsse sich mehr engagieren, fordert Lichtenberger. In einer gemeinsamen Petition bezeichnen Atriva und andere Firmen die 50 Millionen Euro, mit denen das Bundesforschungsministerium neue Covid-19- Medikamente fördert, als zu wenig.
So schnell wie bei den Impfstoffen geht es aber bei den Therapeutika so oder so nicht. Komme genug Geld zusammen, werde man Ende 2021 um eine sogenannte bedingte Genehmigung für ATR-002 ansuchen, sagt der Biotech-Gründer. Auch das lässt sich als Hinweis darauf sehen, dass Covid-19 noch lange bleiben wird.